Lotus erfindet sich neu. Mit der Unterstützung eines finanzkräftigen Investors startet die Kultmarke durch. Geniestreich oder Verrat an Firmengründer Colin Chapman? SPIRIT hat Lotus’ neuen elektrischen SUV Eletre S getestet, um sich Klarheit zu verschaffen.
Text Patrik Hellmüller | Bilder Patrik Hellmüller
Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung. Ist nicht von uns. Ist von Heraklit. Wenn wir bereits im ersten Satz den griechischen Philosophen bemühen, ist die Sachlage einigermassen komplex. Fangen wir mit 2490 Kilogramm Leergewicht an – bei einem Lotus, versteht sich. Stopp, halt! Ist man geneigt, zu rufen. Colin Chapman würde sich im Grab umdrehen! Schliesslich ist vom Lotus-Gründer folgendes Zitat überliefert: «Mehr Leistung macht dich auf den Geraden schneller, weniger Gewicht macht dich überall schneller.»
Doch so einfach ist es nicht. Unbestritten ist, dass Colin Chapman zu den charismatischsten Figuren zählt, welche die Automobilindustrie hervorgebracht hat. Unbestritten ist zudem, dass sein Leichtbau-Credo bis heute in aller Munde ist. Unbestritten ist aber auch, dass leichtgewichtig spartanische Sportwagen heute mehr denn je ein Nischendasein fristen. SUVs beherrschen unser Strassenbild. Weil Lotus genug vom Nischendasein hat, scheint die Lancierung eines SUVs ein logischer Schluss zu sein – zumal für andere Sportwagenbauer genau dieser Schritt zu wirtschaftlichem Erfolg geführt hat.
Technologischer Spitzenreiter dank entschlossenem Investor
Der Eletre ist das erste SUV der Marke und darüber hinaus der erste elektrisch angetriebene Lotus. Technologisch spielt der Eletre mit seiner 800-Volt-Technologie auf Top-Niveau. Er verfügt über eine Reichweite von bis zu 600 Kilometern und lädt innerhalb von 20 Minuten genügend Energie für eine Strecke von 400 Kilometern.
Wie schafft es ein notorisch klammer Nischenhersteller wie Lotus, ein solches Auto auf die Räder zu stellen? Dank Li Shufu, dem chinesischen Automobil-Zampano. Der Selfmade-Milliardär ist Gründer des chinesischen Automobilherstellers Geely, seit 2010 Besitzer von Volvo; Grossaktionär von Mercedes und Aston Martin sowie seit 2017 Mehrheitseigner von Lotus. Mit diesem potenten Investor im Rücken will Lotus künftig eine Schlüsselrolle einnehmen, sei es im Sportwagen- oder SUV-Markt. Wie ernst es Lotus damit meint, zeigt der Eletre auf eindrückliche Weise.
Aufwändiges Gesamtkunstwerk
Behalten wir die legendären Modelle wie Seven, Elite, Elan oder Esprit in unseren Herzen – und machen wir uns ohne Vorurteile auf zur Probefahrt mit dem Eletre S. Baff sind wir bereits, bevor wir eingestiegen sind! Der Schlüssel ist eine Art keramikbeschichtetes Amulett, welches die Kontur des Lotus-Logos aufnimmt. Könnte von einem Juwelier stammen – haptisch wie optisch eine Wohltat! Dann das Auto – ein Design, das niemanden kalt lässt. Futuristisch auf den ersten Blick, bemerkenswert auf den zweiten. Kaum vorzustellen, was es kostet, eine derart komplexe Karosserie zu fertigen. Unzählige Schlitze, Kerben und Wölbungen – aerodynamische Lüftungsöffnungen und Kühlkanäle. Unter der spitzen Nase verfügt die Front über ein grosses Gitter, das sich in eine Reihe von Dreiecken unterteilt. Diese öffnen sich beim Aufschliessen des Autos, indem sie sich raffiniert verschieben. Die Öffnungen dienen dazu, die Batterie zu kühlen. Läuft man von hinten auf das Auto zu, wird man von einer Lichtshow und dem freundlich aus- und einfahrenden Heckspoiler begrüsst. Das alles fügt sich zu einem exakt ausgearbeiteten Design mit aussergewöhnlicher Prägnanz zusammen. Für europäische Verhältnisse ein bisschen exaltiert vielleicht – da und dort wäre weniger mehr. Dennoch geht der im chinesischen Wuhan gefertigte Eltere als Gesamtkunstwerk durch. Wohl wissend, dass die Chinesen damit stolz zeigen, wozu sie fähig sind. Den Eletre haben die Designer so gezeichnet, dass er sowohl europäische als auch chinesische Bedürfnisse abholt. Auffällig ist, dass das Auto seine Präsenz erst in Natura richtig entfaltet. Auch ist der Eletre wesentlich grösser, als wir es von den Bildern her erwartet hätten. Ein weiteres Indiz für die sorgfältige Arbeit der Lotus-Designer.
Wohlfühlambiente und Tech-Gimmicks
Was das Aussendesign verspricht, findet im Interieur seine Fortsetzung. Unmöglich, alle Details aufzuzählen. Lotus gelingt der Spagat zwischen dem chinesischen Bedarf an Technologie und dem europäischen Wunsch nach einem fahrerorientierten Cockpit. Davon zeugen fünf Bildschirme, zwei davon für die Kamerarückspiegel. Mittels konfigurierbarer Beleuchtung lässt sich das Interieur den eigenen farblichen Vorlieben anpassen. Das Glasdach lässt sich per Touch in unterschiedlichen Stufen dimmen. Das Soundsystem des britischen Hi-Fi-Spezialisten KEF verfügt über 23 Lautsprecher und verwandelt den Lotus in einen Konzertsaal. Die Sitze lassen sich 20-fach verstellen und bieten unzählige Massagefunktionen. Weiter überzeugt die haptische Raffinesse. Jeder Schalter, die Getränkehalter, die Sitze – alles fühlt sich sehr angenehm und hochwertig an. Dazu kommt der edle Materialmix mit Alcantara und Re-Fibre-Stoffen, die aus Reststoffen aus der Modeindustrie gewoben werden.
Leichtfüssig wie ein echter Lotus?
Und wie fährt er sich? Der Eletre lässt sich trotz seiner Grösse und dem hohen Gewicht spielend rangieren. Einerseits dank der Assistenzsysteme und unzähligen Sensoren, die ein sehr genaues Umgebungsbild zeichnen und dieses in Echtzeit bereitstellen, andererseits durch die Vierradlenkung.
Mit seinen 603 PS soll der Lotus Eletre S in 4,5 Sekunden von Null auf Hundert beschleunigen – das glauben wir gerne. Vor allem im unteren Geschwindigkeitsbereich nimmt Lotus die Leistung etwas zurück. Das sorgt dafür, dass man stets ein gutes Gefühl fürs Auto und die Beschleunigung im Griff hat. Auf der Autobahnauffahrt schiesst der Eletre S mit dem typischen Elektro-Punch los. Auf kurvigen Strassen kaschiert das mächtige SUV sein Gewicht sehr gut. So gut, dass wir uns fragen, ob vielleicht sogar Colin Chapman ein klein wenig beeindruckt gewesen wäre, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, einen Eletre zu fahren.
Unser Fazit nach drei Tagen mit dem neuen Lotus fällt positiv aus. Schnell haben wir die Qualitäten dieses formal und technologisch hochentwickelten Autos schätzen gelernt. Wer sich also nach einem Elektroauto umschaut, das sich deutlich von der Masse abhebt, sollte sich den Eletre anschauen. Noch ist Lotus ein Geheimtipp – doch wir sind uns sicher, dass sich das bald ändern wird und wir noch viel von der britisch-chinesischen Marke hören werden.
Zum Schluss haben wir noch eine gute Nachricht für die alteingesessenen Lotus-Fans, deren Weltbild bei einem 2490 Kilogram schweren Auto arg in Schieflage geraten würde. Mit dem Emira gibt es einen letzten Lotus im klassischen Sinn, angetrieben von einem Mittelmotor, gefertigt in England.
Fazit: Lotus Eletre S
Wow-Faktor: Wow! Wow! Wow! Leistungsschau des britisch-chinesischen Herstellers.
Willhaben-Faktor: Vorhanden. Wir haben uns längst ans hochwertige Interieur gewöhnt.
Coolness-Faktor: Überraschendes Design innen und aussen. Yeah!
Was-für-länger-Faktor: Durchaus.
Style-Faktor: Sticht heraus, sieht man nicht an jeder Ecke.
Lotus Eletre S
Preis: Ab CHF 144000.–, Testauto CHF 179 000
Technologie: Elektromotor, 800-V-Technologie, Reichweite bis 600 km, 603 PS
Fahrleistungen: Höchstgeschwindigkeit: 258km/h, 0–100km/h: 4,5s