Klassik-Sammler und EnergyPark-Gründer Martin Jaggi hat eine wahre Ikone in seinem Museum – einen Mercedes-Benz 300 SL «Flügeltürer». Der schrieb erst Renngeschichte, bevor er 1954 als Serienmodell debütierte.
Text Ulrich Safferling | Fotos Christian Egelmair
Dem Mercedes-Benz 300 SL kann man irgendwie nicht entkommen. Denn gefühlt hat er ständig Jubiläum. War es nicht 2022 erst, und jetzt schon wieder? Das Geheimnis liegt in der Trilogie des Modells begründet: 1952 ging der 300 SL – intern W 194 genannt – als Rennwagen an den Start. Und begründete den Mythos. Zwei Jahre später, und damit jetzt vor 70 Jahren, feierte das Serienmodell W 198 I als Coupé sein Debüt: Der «Flügeltürer» war geboren. Und in drei Jahren wird der dazu gehörende Roadster W 198 II 70 Jahre alt – und der Rennwagen zugleich 75 Jahre. Und so geht es alle zwei oder drei Jahre immer weiter mit den runden und halbrunden Jubiläen. Man kann ihnen nicht entkommen.
Nun sind Auto-Jubiläen ein beliebter Anlass bei Journalisten, noch mal an ein berühmtes Modell zu erinnern. Dass dabei die Butter-und-Brot-Modelle etwas weniger Gewicht haben als die Ikonen und Legenden, liegt in der Natur der Sache. Daher verwundert es nicht, dass vor allem der 300 SL immer wieder gern bemüht wird. Denn er war nicht nur zu seiner Zeit ein Ausnahme-Modell, sondern vor allem auch ein Stück neuer deutscher Identität nach dem Krieg. Das Wirtschaftswunder nahm damals Fahrt auf, und die eindrücklichen Siege des erfolgreichen Rennwagens 300 SL im Jahr 1952 – zwei Jahre vor dem «Wunder von Bern» der deutschen Fussballnationalmannschaft – sorgten für ein «Wir-sind-wieder-wer»-Gefühl. Der «Höchstleistungssportwagen», wie ihn die «Automobil Revue» nannte, brannte sich damals ins kollektive Gedächtnis ein, aus dem er seitdem nicht mehr wegzudenken ist.
Idee, Technik und Stilistik
Ein weiterer Punkt ist die unglaubliche Wertsteigerung, die der SL seitdem erfahren hat. Zwar war der Sportwagen nie günstig, für den 1954er-Einstiegspreis von 33’500 Franken gab es damals auch ein kleines Häuschen. In den 1970er- und 1980er-Jahren zog der Preis nur moderat an. Aber danach schwang er sich zur Jahrtausendwende zur halben Million auf und wurde mit dem Oldtimer-Boom endgültig zum Millionen-Seller. Ob als generelle Wertanlage oder in diversen Spezifikationen mit Alu-Karosse oder mit prominenten Vorbesitzern wie Sophia Loren und Juan Manuel Fangio – es geht nur noch um die Höhe der Nachkommastelle bei der Million. Den absoluten Spitzenpreis im Markt erzielte 2022 eins der beiden berühmten Uhlenhaut-Coupés: ein Flügeltürer mit dem Achtzylinder aus dem Rennwagen 300 SLR (W 196). Mit einem Auktionspreis von 135 Millionen Euro wurde er nicht nur der teuerste Oldtimer, sondern das teuerste Auto der Welt. Neben den ständigen Jubiläen und dem Wertfaktor ist es die fast unglaubliche Renngeschichte, die den 300 SL bis heute berühmt macht. Zwar spielte Mercedes-Benz mit seinen Silberpfeilen schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine bedeutende Rolle in der Rennsportgeschichte. Dass die Stuttgarter aber bereits sieben Jahre nach dem Krieg wieder mit einem derart überlegenen Fahrzeug an den Start gehen konnten, war dann doch eine Überraschung, für die vor allem drei Männer verantwortlich waren: Rudolf Uhlenhaut als Ingenieur und Entwicklungsleiter, Konstruktionschef Hans Scherenberg und Friedrich Geiger, Leiter der Stilistik, wie das Design damals genannt wurde.
GT statt Formelwagen
Begonnen hat die Geschichte des 300 SL mit einer Absage des Werks an einen Neustart in der Formelklasse, die wir heute als Formel 1 kennen. Zwar gab es noch die beiden sogenannten Tripolis-Rennwagen von 1939, die der damals gültigen Rennformel von 1,5 Litern mit Kompressor entsprachen. Aber Siegchancen sah man für die beiden alten Renner nicht mehr. Eine neue Konstruktion W 195 wurde entworfen, doch da die Rennformel nur bis 1953 gelten sollte, wäre der neue Rennwagen im schlechtesten Fall nur für eine Saison gebaut worden. Diesen Aufwand scheute das Werk und richtete sein Augenmerk daher auf den «grossen Tourenwagensport», wie die Schwaben die Gran-Turismo-Klasse bezeichneten. Ideengeber für den 300 SL wurde dabei Rudolf Uhlenhaut, der als Leiter der Rennwagenabteilung die Silberpfeile erfolgreich gemacht hatte. Und noch ein bekannter Name taucht an dieser Stelle der Geschichte auf: Alfred Neubauer, Rennleiter aus den 1930er-Jahren, schlug Langstreckenrennen für den neuen Sportwagen vor, darunter die Mille Miglia und Le Mans.
Dafür zauberte Uhlenhaut quasi aus dem Hut den 300 SL, der in aller Literatur stets als «sein Auto» bezeichnet wird, weil er die entsprechenden Ideen zusammenbrachte. Schon in der Nachkriegszeit hatte er an einer Gitterrohr-Konstruktion getüftelt. Dafür musste Friedrich Geiger eine Karosserie entwerfen, die mit den hohen Seitenwänden durch den Rohrrahmen zurechtkam – das implizierte die Flügeltüren, die Mercedes nicht erfunden hatte, aber mit dem 300 SL bekannt und berühmt machte. Alfred Neubauer hatte zuvor mit dem Le-Mans-Verantwortlichen geklärt, ob und wie diese Türen reglementskonform sein konnten. Und schliesslich und endlich musste der Serienmotor aus dem Mercedes 300/300S modifiziert werden, um halbwegs Leistung zu haben. Übrigens im Rennwagen ohne Einspritzung, da mussten es noch Solex-Vergaser tun, weswegen die Leistung im Mittel nur bei 175 statt 215 PS beim späteren Serienmodell lag. Alles in allem fast eine iPhone-Geschichte – das Geheimnis des Erfolgs liegt in der richtigen Mischung von bekannten Zutaten.
Ein Geier, der Geschichte schrieb
Der Rest ist Geschichte, beziehungsweise führte selbige zu dem überragenden Erfolg des 300 SL mit einem 2. Platz bei der Mille Miglia, den ersten drei Plätzen beim Grossen Preis von Bern und den beiden Doppelsiegen in Le Mans und bei der Carrera Panamericana: damals das schwierigste und längste Rennen der Welt. Von dort ist vor allem die Geschichte mit dem Aasgeier überliefert, der das führende Team Karl Kling und Hans Klenk fast um Kopf und Kragen gebracht hätte. Hans-Günther Wolf beschreibt das in seinem Buch «Rennsieg in Mexiko» so: «Von der Geschwindigkeit eines voll aufgedrehten 300 SL hatte der Geier, der an einem überfahrenen Leguan herumknabberte, anscheinend nicht die richtige Vorstellung. Er flog viel zu spät gemächlich auf und krachte dem heranschiessenden Wagen durch die Windschutzscheibe.» Ergo: Nicht der Geier flog ins Auto, sondern das Auto in den Geier. In Mexiko endet die Renngeschichte des W 194 als 300 SL, sein Nachfolger wurde der SLR.
Doch nur ein Jahr später, im Herbst 1953, entstand auf Wunsch des Mercedes-Importeurs Max Hoffman eine Serienversion des 300 SL, der W 198. Natürlich komfortabler als die Rennversion, aber optisch ein direkter Ableger. Mit besserer Isolierung, Heizung, kleinem Gepäckfach hinter den Sitzen und jener Benzindirekteinspritzung, mit der man in der Zwischenzeit schon experimentiert hatte. Die Vorarbeit hatte Hans Scherenberg im Krieg bei den Daimler-Motoren geleistet, die bei der Deutschen Luftwaffe zum Einsatz kamen. Jetzt kam diese Technik erst im SLR und danach im 300 SL zum Einsatz – der erste serienmässige Einspritz-Viertaktmotor in einem Automobil. In der Basisversion leistete der Sechszylinder 200 PS, mit einer oft bestellten Sportnockenwelle 215 PS.
Pendelachse und Trommelbremsen
Da zu erwarten war, dass die neuen Kunden den 300 SL ebenfalls bei Rennen einsetzen würden, das Gewicht des Serienmodells aber steil nach oben anzog, wurden 29 Coupés mit einer Alu-Karosserie gebaut. Diese sogenannten Alu-Flügel gelten heute als besonders wertvoll. Nicht ganz State of the art war die günstige, aber fahrkritische Zweigelenk-Pendelachse, die hinten statt der Eingelenkachse des Rennwagens verbaut wurde – und die von Uhlenhaut favorisiert worden war. Erst bei den SLS, zwei für die US-Saison 1957 aufgebauten SL-Roadstern, kam diese bessere Wahl wieder zum Zuge. Die Trommelbremsen hatten sie allerdings genauso wie die W 194 und die Serienmodelle. Scheibenbremsen kamen erst mit dem 300 SL Roadster, der 1957 dem Coupé nachfolgte und sich noch etwas erfolgreicher verkaufte (1400 versus 1858 Exemplare).
Wer beide Exemplare Seite an Seite sehen will, muss entweder ins Mercedes-Museum nach Stuttgart fahren oder in den EnergyPark von SPIRIT-Herausgeber Martin Jaggi. Der langjährige SL-Fahrer hat sich sein erstes Exemplar schon vor 25 Jahren gekauft, als die Preise noch nicht da waren, wo sie heute sind, wie er sagt. «Man muss sich das mal vorstellen, es gab eine Zeit, da standen diese Autos an der Strasse zum Verkauf, lange bevor der Hype und die Spekulation damit begonnen haben.» Ihn selbst hat die Leidenschaft frühzeitig gepackt, er erinnert sich noch an seine Dinky-Toys-Modelle. Seitdem gibt es für ihn kein schöneres Auto.
Seine beiden aktuellen 300 SL hat er von einem SL-Club-Kollegen, der seinen Flügel und einen Roadster verkaufen wollte. «Beide sind wunderschön restauriert, aber ich musste meine zwei originalen Roadster dafür verkaufen, damit das passte.» Und in der Tat, präsentieren sich beide Modelle wie sprichwörtlich aus dem Ei gepellt. Damit der Zustand so bleibt, achtet Martin auf Details, wie zum Beispiel einen schonenden Einstieg: «Die breiten Holme sind ja nun mal etwas schwierig zu überwinden, man sieht da oft Abnutzungsspuren bei vielen SL. Ich lege immer Tüchli darüber, damit das Leder nicht leidet und die Holme möglichst sauber bleiben.»
Leichtfüssig, urig und kultiviert
Die Farbkombination seines 300 SL aus Silber und blauem Leder findet er ziemlich perfekt, elegant und unaufdringlich. Und noch original wie bei der Auslieferung. Besonders glücklich ist er mit den Rudge-Felgen und dem Zentralverschluss, die sportlich wirken. Natürlich benutzt er auf Reisen auch die passgenauen Koffer, die es als Set für den 300 SL gibt, und die mittlerweile «zum Preis eines Kleinwagens gehandelt werden». Denn viel Platz ist in so einem Flügeltürer nicht. Dort, wo der Kofferraum sein sollte, schlucken ein 100-Liter-Tank und ein Reserverad den Stauraum. Innen geht es auch nicht üppig und vor allem heiss zu: Die kleinen Dreiecksfenster sorgen kaum für Luft, und wer baut schon die ganzen Scheiben aus und verstaut sie hinter den Sitzen, wie sich der Hersteller das ausgedacht hatte: Es steckt eben doch noch immer viel Rennwagen im 300 SL.
Das merkt Martin bei jeder Ausfahrt, denn völlig klar, so ein Auto muss regelmässig bewegt werden. «Es ist schon unglaublich, wie leichtfüssig das Auto trotz seines Alters unterwegs ist. Ich fahre lieber den Flügel als den Roadster. Da muss man zwar schaffen und mit den Trommelbremsen und der Hinterachse umgehen können, aber er ist noch viel uriger, und trotzdem kultiviert.» Aus genau diesem Grund mutet er seinem Traumauto auch keine Renneinsätze zu, aber einmal im Jahr eine grössere Reise muss schon drinliegen. Nur das beliebte Spiel, Anlassen, um den Motor zu hören, das gibt es bei Martin nicht.
Über die Geschichte des Autos ist leider nicht allzu viel bekannt. Es wurde am 2. Juni 1955 nach Los Angeles ausgeliefert, gehört also zum zweiten Jahrgang, der gebaut wurde. Danach wurde er einmal in Kalifornien weiterverkauft, bevor er dort «im mässigen Zustand aufgefunden» in die Schweiz exportiert und dort 1987 in Schwarzenbach SG von Grund auf restauriert wurde. Seitdem musste nicht mehr viel gemacht werden. «Die Einspritzpumpe musste revidiert werden, aber sonst läuft er einwandfrei», sagt Martin. Und ein normaler Service schlägt mit 1500 bis 2000 Franken zu Buche: zivil für ein Auto in der oberen Preiskategorie.
Und diese Faszination! Die erlebt er an jeder Tankstelle, bei der er mit dem Flügel vorfährt. «Da kommen mindestens drei oder vier Leute und wollen etwas wissen oder ein Bild machen – der 300 SL ist ein Magnet, das gibt es bei keinem anderen Fahrzeug.» Wenn er dann wieder weiterfährt geniesst er auf jedem Kilometer den Sound und das Fahrgefühl: «Irgendwie fährt da immer der Mythos mit.»